Nirgendwo im Globalen Süden sei die Fotografie so enthusiastisch aufgenommen worden, wie an der Küste West- und Zentralafrikas. Nur zwanzig Jahre nachdem das neue Medium 1839 in Paris vorgestellt wurde, habe es sich schlagartig weltweit verbreitet. So habe sich auch zwischen Dakar und Luanda eine blühende Fotokultur entwickelt, schreibt das Museum Rietberg über ihre Ausstellung „The Future is Blinking“, die am 18. März 2022 eröffnet wird.

Erstmals in der Schweiz: Fotografien von Berufsfotografen aus West- und Zentralafrika

Die Ausstellung «The Future is Blinking» zeigt erstmals in der Schweiz Fotografien von Berufsfotografen aus West- und Zentralafrika, die ab dem späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert entstanden. Die Fotografien stammen überwiegend aus der Sammlung der renommierten Ethnologin und Fotohistorikerin Christraud M. Geary des Museums Rietberg. Punktuell werden sie durch Leihgaben internationaler und nationaler Sammlungen sowie um eine Skulptur des zeitgenössischen Künstlers Yinka Shonibare ergänzt. 

«Händler-Familie mit wertvollem Besitz, darunter auch eine gerahmte Fotografie». Unbekannt, Jacqueville, Elfenbeinküste, um 1902, Autotypie, Museum Rietberg Zürich, Sammlung Christraud M. Geary, Ankauf mit Mitteln des Rietberg-Kreises

Anhand von hundert Originalabzügen denkt die Ausstellung die Fotografiegeschichte West- und Zentralafrikas nicht vom Globalen Norden her, sondern rückt ihre Eigenheiten, künstlerische Praxis und Darstellungskonventionen ins Zentrum. Die gezeigten Portraits erscheinen uns dennoch seltsam vertraut. Wie bei Fotografien, die heute auf Social Media verbreitet werden, stellten die Fotografien individuelle Wunschbilder dar und erzeugten neue Wirklichkeiten. Die Ausstellung im Museum Rietberg zieht zudem überraschende Bezüge zur traditionellen Schnitzkunst aus der Region, zur Wanderfotografie in der Schweiz und zur neuesten Modefotografie aus den USA. 

Ergebnis einer selbstbestimmten Fotokultur

Die frühesten Fotografien von der Küste West- und Zentralafrikas sind das Ergebnis einer selbstbestimmten Fotokultur und unterscheiden sich damit stark von der kolonialen Fotografie mit ihren von Vorurteilen geprägten Darstellungen von afrikanischen Personen. In einer Zeit, in der das Leben von kolonialer Unterdrückung dominiert war, wurde das Freiluftstudio zum Ort der Selbstbestimmung, Selbstdarstellung und Identitätsbildung. Dabei nutzte man das Potential der Fotografie, neue Wirklichkeiten zu erschaffen. Insbesondere Frauen standen dem neuen Medium aufgeschlossen gegenüber. Ihre Schönheit setzten sie zusammen mit prächtigen Textilien als Ressource vor der Kamera ein, um ihre Position in der Gesellschaft zu artikulieren. Die starke Präsenz der Frauen in der Studiofotografie West- und Zentralafrikas steht im Gegensatz zu ihrer Abwesenheit in Archiven und zur Stummheit der afrikanischen Frauen in der westlichen Geschichtsschreibung. 

Die meisten frühen Bilder auf Postkarten oder in Alben

Die meisten frühen Bilder westafrikanischer Fotografen befinden sich heute auf Postkarten gedruckt oder in Alben geklebt in Archiven im Globalen Norden. Lange Zeit vermutete man, dass es sich bei den auf die Rückseite solcher Fotografien gedruckten Namen um eur0päische Fotografen handelte. Erst in den letzten zwanzig Jahren haben Recherchen ergeben, dass die meisten Studiofotografien eine lokale Urheberschaft haben. Bei den Pionieren handelte es sich um junge Männer der städtischen Elite mit ähnlichen Biografien. Viele von ihnen stammten aus Sierra Leone oder Gambia und wurden in Missionsschulen ausgebildet. Sie führten ein rastloses Leben und reisten mit ihren mobilen Freiluftstudios auf dem Dampfschiff entlang der Küste von Dakar bis Luanda; sie verstanden sich als Künstler und be-herrschten die neuesten Techniken ihrer Zeit.

«Drei Frauen». Khalilou (Senegalese, aktiv um 1900), Libreville, Gabun, 1910, Lichtdruck, Museum Rietberg Zürich, Sammlung Christraud M. Geary, Ankauf mit Mitteln des Rietberg-Kreises

Zusammen mit ihrer Kundschaft schufen Fotografen aus der Region in Freiluftstudios einzigartige Porträtfotografien. Die Ausstellung entschlüsselt die in den Fotografien sichtbaren Codes und bringt die Bilder zum Sprechen. «The Future is Blinking» fokussiert auf die Selbstinszenierung vor der Kamera lange bevor das Thema durch digitale soziale Plattformen hochaktuell wurde. Obwohl die Identitäten der meisten Abgebildeten im Laufe der Zeit auf diese Weise verloren gegangen sind, begegnen wir ihrem Blick und stellen fest, dass sie bei der Gestaltung der Fotografien das letzte Wort hatten.

Fotografen stellten für die Porträts auch die Ausstattung zur Verfügung.

Die Fotografen stellten für diese Verwandlungen ihrer Kundschaft eine Bühne mitsamt Ausstattung zur Verfügung. Dazu gehörten neben Hintergründen auch Dekors und Accessoires. Die Porträtierten wählten, je nachdem welche Absicht sie mit den Bildern verfolgten, die passenden Elemente aus und vermischten sie mit Dingen aus ihrem persönlichen Besitz. Fotokulissen als Projektionsflächen, die die Welt verschönern und verbessern sollten, waren ein wichtiges Element der Fotografien. Um ihrer Modernität Ausdruck zu verleihen, griffen Abgebildete auch auf importierte Accessoires wie Tropenhelme, Schirme oder Plastikblumen zurück. Je nach Anlass für den Studiobesuch wurden auch traditionelle, mit lokaler Bedeutung aufgeladene Accessoires wie Schmuck, Stoffe oder Insignien politischer Macht verwendet.

«Porträt einer Frau mit modischer Frisur und Regenschirm». Unbekannt, Nigeria (?), um 1890, Albuminabzug, Museum Rietberg Zürich, Sammlung Christraud M. Geary, Ankauf mit Mitteln des Rietberg-Kreises

Textilien kam in der Portraitfotografie eine besondere Bedeutung zu. Sie sorgten für Bewegung, indem sie mit ihren asymmetrischen Mustern die ausgewogenen Bildkompositionen durchbrachen. Mit ihrer Wahl der Stoffe signalisierten die Porträtierten ihren sozialen Status, ihre Zughörigkeit zu einer bestimmten regionalen Gruppe oder ihre Beziehung untereinander. Stoffe konnten auch an Pubertätsriten oder Beerdigungen erinnern, verkörperten also die Erinnerung im Erinnerungsfoto. 

Die Fotografie hat in West- und Zentralafrika keine Leerstelle besetzt. Vielmehr hat sie an anderen lokalen Künsten angeknüpft, ist in einem wechselseitigen Verhältnis gestanden oder auch Symbiosen eingegangen. Diese Beziehungen zu anderen Künsten haben die besondere Ästhetik der west- und zentralafrikanischen Fotokultur hervorgerufen. Anders als im Globalen Norden war dafür nicht die Malerei prägend, sondern die Bildhauerei und die performativen Künste. Das Verhältnis zwischen Fotografie und Bildhauerkunst wird erstmals in einer Ausstellung thematisiert. Statt des Meissels benutzten Fotografen Grafitstifte, um ihre Kunstwerke so zu bearbeiten, dass sie dem idealen Menschen möglichst nah kamen. Mit diesen Eingriffen wurden die Spuren des Lebens getilgt, sodass die Gesichter wie eine Maske erschienen – ein Ideal, das aus der Schnitzkunst übernommen wurde.

«The future is blinking» ist ein Zitat des ghanaischen Fotografen Philip Kwame Apagya (*1958) aus dem Film Future Remembrance (1997). Apagya nimmt damit Bezug auf die in seinen Augen wichtigste Aufgabe der Fotografie in Ghana, nämlich mit idealisierten Porträts Erinnerungen zu schaffen für zukünftige Generationen. Auch die Studiofotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte die Zukunft im Blick, indem Wunschbilder für die Nachwelt inszeniert wurden.

Porträts auch als Postkarten an Reisende verkauft 

Viele Fotografien in dieser Ausstellung wurden bereits kurz nach ihrer Produktion als Postkarten an Reisende verkauft. Mit dem Übergang privater Fotografien in die öffentliche Sphäre wurden die Bilder von den Narrativen und Praktiken getrennt, die die Fotografien mit Bedeutung aufluden und anhand derer die Porträtierten erkennbar blieben. 

Die Ausstellung wirft Fragen zu unserem Afrikabild, zu Fremd- und Selbstwahrnehmung, zu Exotisierung und letztendlich zur Darstellung des Anderen auf. Mit der wachsenden Beliebt-heit der Bildpostkarte im frühen 20. Jahrhundert bot sich den Fotografen ein lukratives Geschäftsfeld. Die afrikanischen Auftraggeber von Postkarten waren vertraut mit dem Bildhunger Europas nach Exotik und nutzten diesen zu ihren Gunsten, indem sie Bilder inszenierten, die Besuchende aus dem Ausland ansprachen. Sie verwendeten auch von Familien privat in Auftrag gegebene Porträts. Mit verallgemeinernden Bildunterschriften versehen, verloren die abgebildeten Personen ihre Identität; abgebildete Frauen wurden vom Körper-Subjekt zum Körper-Objekt.