Plastik prägt unseren Alltag wie kaum ein anderes Material: von der Verpackung bis zum Turnschuh, vom Haushaltsgerät bis zum Möbel, vom Auto bis zur Architektur. Jahrzehntelang standen Kunststoffe für unbeschwerten Konsum und revolutionäre Neuerungen, sie beflügelten die Vorstellungskraft von DesignerInnen und ArchitektInnen. Doch diese Zeiten sind vorbei, seit die Folgen des Kunststoff-Booms drastisch sichtbar geworden sind.

The Ocean Cleanup, Besatzung sortiert Plastik an Deck nach Müllbergung durch System 002, Oktober 2021 © The Ocean Cleanup

The Ocean Cleanup, Besatzung sortiert Plastik an Deck nach Müllbergung durch System 002, Oktober 2021, © The Ocean Cleanup

Mit der grossen Ausstellung »Plastik. Die Welt neu denken« untersucht das Vitra Design Museum noch bis am 4. September 2022 die Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines kontroversen Materials: vom rasanten Aufstieg der Kunststoffe im 20. Jahrhundert über ihre verheerenden Folgen für die Umwelt bis hin zu Lösungsansätzen für einen nachhaltigeren Umgang mit Plastik. Gezeigt werden unter anderem Raritäten aus der frühen Moderne, Objekte der Pop-Ära, aber auch zahlreiche aktuelle Entwürfe und Projekte, darunter pragmatische Innovationen, Initiativen zur Säuberung der Ozeane, Konzepte zur Wiederverwertung sowie Bioplastik auf Basis von Algen oder Pilzzellen.

Marco Cagnoni, Plastic Culture / Vertical Bioplastic Farm, 2018; Foto: Nicole Marnati

Marco Cagnoni, Plastic Culture / Vertical Bioplastic Farm, 2018; Foto: Nicole Marnati

Zum Auftakt der Ausstellung veranschaulicht eine grossformatige Filminstallation, welche Konflikte sich aus der Produktion und Nutzung von Plastik ergeben. Zeitlosen Szenen urwüchsiger Natur stehen Filme über die Kunststoffproduktion der letzten 100 Jahre gegenüber, die die Verlockung einer immer schneller getakteten und günstigeren industriellen Herstellung deutlich machen. Über 200 Millionen Jahre dauerte die Entstehung der fossilen Rohstoffe Kohle und Erdöl, die die Grundlage aller synthetischen Kunststoffe bilden, doch in kaum mehr als einem Jahrhundert wurde daraus eines der grössten globalen Umweltprobleme unserer Zeit.

Installationsansicht »Plastik. Die Welt neu denken« © Vitra Design Museum Foto: Bettina Matthiessen

Installationsansicht »Plastik. Die Welt neu denken« © Vitra Design Museum; Foto: Bettina Matthiessen

Im weiteren Verlauf der Ausstellung stehen die Entwicklung der Kunststoffe und ihre Wahrnehmung im Fokus – von den Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen globalen Allgegenwart von Plastik. Die ersten Vorläufer basierten auf pflanzlichen und tierischen Rohstoffen: So wurden für die Gestaltung von Trinkgefäßen oder Besteck jahrhundertelang Horn und Schildpatt genutzt. Das einst für Dekorationsobjekte und Seekabelisolierungen verwendete Guttapercha wiederum besteht aus dem eingedickten Saft des gleichnamigen Baumes. Als John Wesley Hyatt in den 1860er Jahren das Zelluloid erfand, war er auf der Suche nach einem neuen Material für Billardkugeln, die damals noch aus Elfenbein gefertigt wurden. Der erste vollsynthetische Kunststoff wurde 1907 von Leo Baekeland erfunden, trug den Namen Bakelit und galt schon bald als Material der unbegrenzten Möglichkeiten. Wegen seiner guten Isoliereigenschaften wurde Bakelit für Lichtschalter, Steckdosen und Radios verwendet und spielte eine zentrale Rolle bei der flächendeckenden Elektrifizierung.

Bakelit-Werbeblatt, 1930er Jahre; Courtesy Amsterdam Bakelite Collection

Bakelit-Werbeblatt, 1930er Jahre; Courtesy Amsterdam Bakelite Collection

Heute ist Plastik weltweit allgegenwärtig und aus dem Alltag kaum noch wegzudenken. Das gilt besonders im Gesundheitsbereich, wo die positiven, manchmal lebensrettenden Eigenschaften von Plastik ebenso deutlich werden wie seine negativen, sogar lebensbedrohlichen Auswirkungen. Die Folgen des Kunststoff-Booms haben sich in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt: von Mikroplastik im Boden, in den Weltmeeren und in unserem Körper bis hin zu Bergen von Verpackungsmüll, der auch heute noch immer zum Großteil entsorgt oder verbrannt wird – mit immensen ökologischen Konsequenzen auf globaler Ebene.

Installationsansicht »Plastik. Die Welt neu denken« © Vitra Design Museum Foto: Bettina Matthiessen

Installationsansicht »Plastik. Die Welt neu denken« © Vitra Design Museum; Foto: Bettina Matthiessen

Ein eigener Ausstellungsbereich in der Vitra Design Museum Gallery ist dem Thema Recycling gewidmet. Hier können die BesucherInnen in einem interaktiv angelegten Raum Recycling-Kreisläufe kennenlernen und anhand des Projekts »Precious Plastic« (seit 2013) des niederländischen Designers Dave Hakkens erleben, wie wertvoll und inspirierend recycelter Plastik als neuer Rohstoff sein kann. Dass Design Bewusstsein vermitteln und auch auf die so wichtige Veränderung von Gesetzgebung drängen kann, zeigt das Projekt »FlipFlopi« in Kenia. Hierfür wurde ein traditionelles Segelschiff, eine Dau, aus recyceltem Kunststoff gebaut und segelt nun als mobiles Informationszentrum zum Thema Plastikmüll umher.

Courtesy The Flipflopi

The Flipflopi ist ein traditionelles Segelschiff, eine Dau, aus recyceltem Kunststoff. Courtesy The Flipflopi

Insgesamt zeichnet die Ausstellung »Plastik. Die Welt neu denken« ein kritisches, aber auch differenziertes Bild des Materials Plastik. Eigens für die Ausstellung geführte Interviews mit DesignerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen zeigen, wie wichtig bei der Lösung des Plastikproblems die gemeinsame Anstrengung von Politik, Industrie und Forschung ist. Doch auch wenn sich alle persönlich engagieren, wird es keine einfache Patentlösung geben. Es geht also besonders darum, die komplexen Zusammenhänge zu veranschaulichen und zu fragen: Wie sind wir in die Abhängigkeit von Kunststoffen geraten? Wo ist Plastik essenziell und wo kann es reduziert oder ersetzt werden? Und schließlich: Wie können wir Kunststoffe zukünftig intelligenter und nachhaltiger nutzen?

Ebenfalls zum Thema Plastik hat das online-Magazin COLOSSAL kürzlich einen Beitrag publiziert, der zeigt, wie aus Plastikabfällen kunstvolle Skulpturen entstehen können. Das Beispiel davon finden Sie hier.

Teaserbild: Richard John Seymour, aus der Serie »Yiwu Commodity City«, 2015, © Richard John Seymour